Orlandos Motor schnurrt wie gewöhnlich. Die Strasse führt über sanft geschwungene Hügel, an endlosen Kornfeldern vorbei, Richtung Kappadokien. Plötzlich ein Stottern. Keine Schubkraft mehr trotz durchgedrücktem Gaspedal. Wir rollen aus und bleiben im Nirgendwo neben einem Fischrestaurant stehen.
300 Kilometer zuvor haben wir dasselbe schon einmal erlebt, mitten auf einer vierspurigen Autobahn. Dort haben wir es gerade noch zu einer Tankstelle mit einer kleinen Autowerkstatt geschafft. Der Mechaniker kroch unter den Bus und zog den Benzinfilter vom Schlauch. Bei vollem Tank! Benzin spritzte über sein Gesicht, seine Arme, seine Arbeitsjacke. Nachdem er den dreckigen Benzinfilter gesäubert, und unter einer zweiten Benzindusche wieder einsetzte, zündete er sich eine Zigarette an und sagte grinsend «Boom». Das Ganze erinnerte mich an einen Quentin Tarantino Film. Derselbe Humor. Bloss mit Benzin statt Blut. Wir dachten «Problem gelöst» und fuhren weiter. Jetzt stottert Orlando wieder und steht plötzlich still.
Wir setzen uns bei brütender Hitze ins Restaurant und bestellen eiskalte Limonade. Hier gibt es ausser diesem Restaurant und einer einsamen Strassenkreuzung weit und breit nur Kornfelder. Wenigstens steht Orlando im Schatten. Wir rufen unsere Pannenversicherung in der Schweiz an. Dann warten wir. Unser Telefon klingelt. Ein türkischer, überaus freundlicher Vertreter der sich als Mr. Oz vorstellt, schickt uns einen Abschleppwagen vorbei. Wir warten. Nichts passiert. Mehrere Stunden vergehen. Zurückrufen funktioniert nicht, weil unsere Nummer blockiert wird. Also rufen wir wieder unsere Versicherung in der Schweiz an. Die Schweiz telefoniert wieder mit Mr. Oz. Wir warten und schwitzen. Mr. Oz meldet sich in dem Moment, in welchem der lang ersehnte Abschleppwagen auf den Parkplatz vor dem Restaurant einbiegt. Orlando wird aufgeladen und wir fahren im Abendlicht mit arabischem Gangster-Rap aus dem Radio nach Nevşehir. Dort stellen wir Orlando vor einer Autowerkstatt ab und werden in ein schönes Hotel gebracht, welches Mr. Oz für uns ausgesucht hat. Wir duschen uns den Strassenstaub vom Körper und geniessen ein orientalisches Abendessen auf der Dachterrasse unseres Hotels, begleitet vom Ruf des Muezzins. Den ersten Schluck vom eiskalt servierten Bier werden wir so schnell nicht vergessen.
Wir sind unserer AXA-Reiseversicherung sehr dankbar, dass alles so wunderbar geklappt hat. Die Panne kostete uns einen Moment Orientierungslosigkeit, Schweiss und viel Geduld. Sie gab uns aber auch die Gelegenheit, Orlando als vierter Mitreisender in einem anderen Licht zu sehen: Verletzlich, auf einem Abschleppwagen. Wehmütig betrachteten wir unseren Bus über den Rückspiegel des Pannenfahrzeugs. Unser Zuhause auf vier Rädern fährt nicht mehr. Wie wird unsere Reise weitergehen?
Am nächsten Tag stehen wir mitten im Autowerkstattquartier von Nevşehir. Die Sanayi ist ein Bazar von hundert nebeneinanderstehenden Autowerkstätten. Hier werden ganze Autos zersägt und wieder zusammengebaut. Es gibt Ersatzteilhändler, Autoelektriker, Spengler, Polsterer, Getriebespezialisten, Reifenverkäufer, Treibstofftank-Umbauer… Alle hier haben etwas gemeinsam: Schwarze Hände. Es riecht nach Benzin und Öl. Scheppernde Autos verschwinden in kleinen Garagen. Überall liegen alte Autoreifen rum. Es wird debattiert und gearbeitet. Mechaniker, die gerade nichts zu tun haben, rauchen Zigaretten oder trinken Tee. Kunden sitzen auf wackeligen Stühlen und warten auf ihre Autos. Hier gibt es keine Termine. Hier wird sofort repariert.
Orlando wird auf Herz und Nieren geprüft. «Der Benzinfilter ist dreckig. Die Ventile müssen neu eingestellt werden» teilt uns der Werkstattchef mit Hilfe von Google-Translate mit. Wir sollen in der Nähe bleiben. Unsere Sorge, ob wir da jemals wieder rauskommen, steht uns ins Gesicht geschrieben. Nebst dem, dass es uns nicht möglich ist, einen Spezialisten für Olrando zu finden, ist die direkte Verständigung nur über Gesten und Geräusche möglich. Wir vertreten uns die Füsse und vertrauen unserem Reiseglück.
«Habt ihr ein Problem? Kann ich euch helfen?» Ibrahim, ein Türke mit wachen Augen und herzhaftem Lachen spricht uns in perfektem Deutsch an. Er habe lange in Deutschland gearbeitet. Jetzt geniesse er seinen Unruhestand in der Türkei. Wie er uns helfen könne? Wir stellen uns vor und erzählen ihm von Orlandos Panne. «Kein Problem, hier könnt ihr euer ganzes Auto renovieren! Braucht ihr sonst noch was?» «Ja… Orlandos Vordersitze bräuchten dringend eine Generalüberholung. Kennst du einen guten P…». «Ich habe euch den besten Polsterer in der ganzen Sanayi. Kommt, steigt ein, ich bringe euch zu ihm». Ibrahim bleibt den ganzen Tag an unserer Seite. Er übersetzt für uns, lacht mit uns und überwacht die Arbeiten an Orlandos Motor und seinen Sitzen.
Eine Woche, vier Autowerkstattbesuche und einen mehr oder weniger reparierten Bus später sitzen wir bei Ibrahim im Garten. Wir bedanken uns für seine grosse Hilfe. «Das ist doch selbstverständlich» sagt er und lädt uns ein, bei ihm zu übernachten, zu duschen und Kleider zu waschen. Dann verwöhnt er uns mit Kaffee, Kuchen und Geschichten aus seinem Leben. Beim Abschied überhäuft er uns mit frischem Gemüse und Tee aus dem schön gepflegten Garten. Wir seien jederzeit herzlich willkommen in seinem Haus.
Auf dem Weg an die Schwarzmeerküste müssen wir in Sivas abermals eine Werkstatt anfahren. Ibrahim hilft uns erneut, diesmal per Telefon. Er erklärt dem Automechaniker die ganze Krankheits- und Reparaturgeschichte von Orlando. Wir schauen uns die Stadt an, während Automechaniker Nr. 5 unseren Bus repariert. «Ich glaube, wir haben den wunden Punkt gefunden. Ein Kontaktgeber im Verteiler für die Zylinder war kaputt. Er hat ihn ausgewechselt. Sonst meldet euch einfach wieder. Gute Fahrt!» wünscht uns Ibrahim und wir fahren über zwei Pässe ans Schwarze Meer. Ohne Panne.
Wir kannten die Türken bisher vor allem als Verkäufer am Kebabstand in Schweizer Städten. In der Türkei lernten wir ihre Gastfreundschaft, ihre Offenheit, ihre Herzhaftigkeit, ihre Hilfsbereitschaft, ihre Kultur und ihren Humor kennen. Und wir erlebten einmal mehr, dass das Universum Reisenden in Not hilft. Uns hat es einen türkischen Engel mit perfekten Deutschkenntnissen und einem grossen Herz vorbei geschickt.
Danke Ibrahim!