Das Ende der Strasse

Die Strassen sind plötzlich nicht mehr geteert, dafür voller Schlaglöcher und Risse. Berge mit grünen Hängen, die in den Himmel wachsen vor uns. Wir haben den Kaukasus erreicht. Um uns herum rostende Autos, rostende Häuser, rostende Gasleitungen, rostende Strassenpfosten. Rost gehört hier zum Alltagsbild. 

Auf Georgiens Strassen fahren uns Autos entgegen, die ihr Verfallsdatum schon lange überschritten haben. Denn hier darf alles, was noch fährt, gefahren werden. Und was nicht mehr fährt, steht im Strassengraben als Abfallcontainer, Hühnerstall, Ersatzteillager oder rostendes Gerippe. 

Orlando ist in Georgien ein gern gesehener Gast. Menschen winken ihm fröhlich zu, machen Fotos, erzählen von ihrem lang gehegten Traum, auch mal mit so einem Bus durch die Welt zu reisen.

Wir fahren in Täler hinein, in denen die Strassen vor dem Kaukasus enden. Lassen Orlando stehen. Gehen zu Fuss weiter. Geniessen die Stille der Berge, das Rauschen der Flüsse, das Spiel der tieffliegenden Wolken.

Auf unserer Reise haben wir immer wieder Menschen nach dem «Ende der Strasse» gefragt. Was das Bild «Ende der Strasse» für sie bedeutet. Die Antworten waren überraschend unterschiedlich. Für die einen ist das Ende der Strasse der Tod. Für andere ist es der Ort, an dem sie sich niederlassen, um ihren Traum zu verwirklichen. Dann gibt es welche, für die das Ende der Strasse der Abschluss eines Lebensabschnitts ist. Für die meisten gehört das Ende der Strasse zum Leben. Für ein paar wenige fühlt sich das Ende der Strasse bedrohlich an. Für niemanden war es bereits erreicht.

Uns überraschte das Ende der Strasse. Wir wussten ja, dass es kommen wird. Wir haben es für Orlando’s Reise geradezu gesucht. Trotzdem waren wir überrascht. Es erwischte uns Mitten in unserer gewohnten Vorwärtsbewegung. Mitten im Reisen. Plötzlich war es da. Das Ende unserer Strasse. Hätten wir gewusst, dass es uns so schnell erreichen würde, wären wir vielleicht ein bisschen langsamer gefahren… Eine grosse Müdigkeit breitete sich in uns aus. Unsere Köpfe leerten sich. Die innere Stimme, die uns jeden Tag mit Ideen fütterte, verstummte.

Für diese Reise haben wir das Ende der Strasse am weit entferntesten Ort von unserem Zuhause erreicht. Vor dem Kaukasus. Wir standen drei Tage und drei Nächte still. Um das Umkehren nicht nur in unserem Kopf zu begreifen, sondern auch in unserem Körper ankommen zu lassen. Als wir uns schliesslich umdrehten, merkten wir, dass wir einen grossen Schritt weitergekommen sind. Wir stehen am Anfang einer neuen Strasse, die uns voller Ideen im Gepäck nach Hause führen wird.

Türkischer Engel

Orlandos Motor schnurrt wie gewöhnlich. Die Strasse führt über sanft geschwungene Hügel, an endlosen Kornfeldern vorbei, Richtung Kappadokien. Plötzlich ein Stottern. Keine Schubkraft mehr trotz durchgedrücktem Gaspedal. Wir rollen aus und bleiben im Nirgendwo neben einem Fischrestaurant stehen.

300 Kilometer zuvor haben wir dasselbe schon einmal erlebt, mitten auf einer vierspurigen Autobahn. Dort haben wir es gerade noch zu einer Tankstelle mit einer kleinen Autowerkstatt geschafft. Der Mechaniker kroch unter den Bus und zog den Benzinfilter vom Schlauch. Bei vollem Tank! Benzin spritzte über sein Gesicht, seine Arme, seine Arbeitsjacke. Nachdem er den dreckigen Benzinfilter gesäubert, und unter einer zweiten Benzindusche wieder einsetzte, zündete er sich eine Zigarette an und sagte grinsend «Boom». Das Ganze erinnerte mich an einen Quentin Tarantino Film. Derselbe Humor. Bloss mit Benzin statt Blut. Wir dachten «Problem gelöst» und fuhren weiter. Jetzt stottert Orlando wieder und steht plötzlich still.

Wir setzen uns bei brütender Hitze ins Restaurant und bestellen eiskalte Limonade. Hier gibt es ausser diesem Restaurant und einer einsamen Strassenkreuzung weit und breit nur Kornfelder. Wenigstens steht Orlando im Schatten. Wir rufen unsere Pannenversicherung in der Schweiz an. Dann warten wir. Unser Telefon klingelt. Ein türkischer, überaus freundlicher Vertreter der sich als Mr. Oz vorstellt, schickt uns einen Abschleppwagen vorbei. Wir warten. Nichts passiert. Mehrere Stunden vergehen. Zurückrufen funktioniert nicht, weil unsere Nummer blockiert wird. Also rufen wir wieder unsere Versicherung in der Schweiz an. Die Schweiz telefoniert wieder mit Mr. Oz. Wir warten und schwitzen. Mr. Oz meldet sich in dem Moment, in welchem der lang ersehnte Abschleppwagen auf den Parkplatz vor dem Restaurant einbiegt. Orlando wird aufgeladen und wir fahren im Abendlicht mit arabischem Gangster-Rap aus dem Radio nach Nevşehir. Dort stellen wir Orlando vor einer Autowerkstatt ab und werden in ein schönes Hotel gebracht, welches Mr. Oz für uns ausgesucht hat. Wir duschen uns den Strassenstaub vom Körper und geniessen ein orientalisches Abendessen auf der Dachterrasse unseres Hotels, begleitet vom Ruf des Muezzins. Den ersten Schluck vom eiskalt servierten Bier werden wir so schnell nicht vergessen.

Wir sind unserer AXA-Reiseversicherung sehr dankbar, dass alles so wunderbar geklappt hat. Die Panne kostete uns einen Moment Orientierungslosigkeit, Schweiss und viel Geduld. Sie gab uns aber auch die Gelegenheit, Orlando als vierter Mitreisender in einem anderen Licht zu sehen: Verletzlich, auf einem Abschleppwagen. Wehmütig betrachteten wir unseren Bus über den Rückspiegel des Pannenfahrzeugs. Unser Zuhause auf vier Rädern fährt nicht mehr. Wie wird unsere Reise weitergehen? 

Am nächsten Tag stehen wir mitten im Autowerkstattquartier von Nevşehir. Die Sanayi ist ein Bazar von hundert nebeneinanderstehenden Autowerkstätten. Hier werden ganze Autos zersägt und wieder zusammengebaut. Es gibt Ersatzteilhändler, Autoelektriker, Spengler, Polsterer, Getriebespezialisten, Reifenverkäufer, Treibstofftank-Umbauer… Alle hier haben etwas gemeinsam: Schwarze Hände. Es riecht nach Benzin und Öl. Scheppernde Autos verschwinden in kleinen Garagen. Überall liegen alte Autoreifen rum. Es wird debattiert und gearbeitet. Mechaniker, die gerade nichts zu tun haben, rauchen Zigaretten oder trinken Tee. Kunden sitzen auf wackeligen Stühlen und warten auf ihre Autos. Hier gibt es keine Termine. Hier wird sofort repariert.

Orlando wird auf Herz und Nieren geprüft. «Der Benzinfilter ist dreckig. Die Ventile müssen neu eingestellt werden» teilt uns der Werkstattchef mit Hilfe von Google-Translate mit. Wir sollen in der Nähe bleiben. Unsere Sorge, ob wir da jemals wieder rauskommen, steht uns ins Gesicht geschrieben. Nebst dem, dass es uns nicht möglich ist, einen Spezialisten für Olrando zu finden, ist die direkte Verständigung nur über Gesten und Geräusche möglich. Wir vertreten uns die Füsse und vertrauen unserem Reiseglück.

«Habt ihr ein Problem? Kann ich euch helfen?» Ibrahim, ein Türke mit wachen Augen und herzhaftem Lachen spricht uns in perfektem Deutsch an. Er habe lange in Deutschland gearbeitet. Jetzt geniesse er seinen Unruhestand in der Türkei. Wie er uns helfen könne? Wir stellen uns vor und erzählen ihm von Orlandos Panne. «Kein Problem, hier könnt ihr euer ganzes Auto renovieren! Braucht ihr sonst noch was?» «Ja… Orlandos Vordersitze bräuchten dringend eine Generalüberholung. Kennst du einen guten P…». «Ich habe euch den besten Polsterer in der ganzen Sanayi. Kommt, steigt ein, ich bringe euch zu ihm». Ibrahim bleibt den ganzen Tag an unserer Seite. Er übersetzt für uns, lacht mit uns und überwacht die Arbeiten an Orlandos Motor und seinen Sitzen.

Eine Woche, vier Autowerkstattbesuche und einen mehr oder weniger reparierten Bus später sitzen wir bei Ibrahim im Garten. Wir bedanken uns für seine grosse Hilfe. «Das ist doch selbstverständlich» sagt er und lädt uns ein, bei ihm zu übernachten, zu duschen und Kleider zu waschen. Dann verwöhnt er uns mit Kaffee, Kuchen und Geschichten aus seinem Leben. Beim Abschied überhäuft er uns mit frischem Gemüse und Tee aus dem schön gepflegten Garten. Wir seien jederzeit herzlich willkommen in seinem Haus.

Auf dem Weg an die Schwarzmeerküste müssen wir in Sivas abermals eine Werkstatt anfahren. Ibrahim hilft uns erneut, diesmal per Telefon. Er erklärt dem Automechaniker die ganze Krankheits- und Reparaturgeschichte von Orlando. Wir schauen uns die Stadt an, während Automechaniker Nr. 5 unseren Bus repariert. «Ich glaube, wir haben den wunden Punkt gefunden. Ein Kontaktgeber im Verteiler für die Zylinder war kaputt. Er hat ihn ausgewechselt. Sonst meldet euch einfach wieder. Gute Fahrt!» wünscht uns Ibrahim und wir fahren über zwei Pässe ans Schwarze Meer. Ohne Panne.

Wir kannten die Türken bisher vor allem als Verkäufer am Kebabstand in Schweizer Städten. In der Türkei lernten wir ihre Gastfreundschaft, ihre Offenheit, ihre Herzhaftigkeit, ihre Hilfsbereitschaft, ihre Kultur und ihren Humor kennen. Und wir erlebten einmal mehr, dass das Universum Reisenden in Not hilft. Uns hat es einen türkischen Engel mit perfekten Deutschkenntnissen und einem grossen Herz vorbei geschickt.

Danke Ibrahim!

Drei Welpen, ein türkisches Brautpaar und ein Polizist

Eine grosse Waldlichtung umsäumt von riesigen Fichten. Am anderen Ende führt eine kleine Landstrasse über die Wiese. Die Vögel pfeifen. Der Wind rauscht durch die Äste. Kleine Feuerstellen laden zum Verweilen ein. Wir sind die einzigen hier. Also parken wir Orlando an den Rand der Lichtung, sammeln Feuerholz und richten uns ein.

Pünktlich aufs Abendessen steht eine neugierige Kuh neben unserem Tisch und schaut uns in den Teller. Ihre intensive Nähe verrät, dass sie gerne mal was anderes als Gras zu fressen wünscht. Eine türkische Reisefamilie stellt ihren Camper neben uns auf die Waldlichtung. Sie haben hier vor fünf Jahren ihre Flitterwochen verbracht. Plötzlich stehen zwei Pferde neben unserem Bus. Vielleicht sprechen sie mit Orlando über Pferdestärken. Ein tiefliegender BMW biegt von der Strasse in die Lichtung ein, rast an uns vorbei und verschwindet im Wald. Wir schauen uns etwas verwundert um. Es wird kühl. Wir entfachen ein Feuer. Eine Kuhherde wird von quadfahrenden Hirtenfrauen in traditionellen Pumphosen an uns vorbeigetrieben. Hufgetrappel. Ein einzelnes Pferd kreuzt in gestrecktem Galopp ein entgegenkommendes Cabrio. Dann ist es wieder still. Ein Auto hupt in der Ferne. Wieder galoppierende Pferde. Diesmal sind es vier Pferde mit einer Kutsche. Dämmerung über den Bäumen. Feuerschein auf Orlandos Blech. Die türkische Camperfamilie überrascht uns vor dem Schlafen gehen mit einem leckeren Dessert.

Am nächsten Morgen entdecken wir drei kleine schlafende Hunde unter Orlando. Sie zerkauen Flipflops, unseren Teppich, meine Waden und unser Feuerholz. Wir füttern sie mit Haferflocken und machen uns auf, die Gegend zu erkunden. Wir erreichen eine kleine Hochebene und haben das Gefühl, in der Mongolei zu stehen. Neben uns baden Wasserbüffel im Sumpf als wären wir in Kambodscha. Den traditionellen Cay-Tee geniessen wir in einem einfachen Gasthaus, das uns an eine nepalesische Teestube erinnert.

Als wir zu unserer Waldlichtung zurückkehren, steht ein Brautpaar vor Orlando. Ein Fotograf rückt sie ins richtige Licht, während eine Stylistin am riesigen Brautkleid zupft und ihr Assistent die drei kleinen Hunde in Schach hält. Ein stolzer Polizist reitet hoch zu Ross über die Wiese und grüsst jeden einzelnen von uns. Sein Gruss verbindet alle Anwesenden auf eine skurril-poetische Weise. Es kommt mir vor, als würde hier ein Film von Emir Kusturica gedreht, in welchem reisende Schweizer, mit Hilfe von Google-Translate absurde Dialoge mit türkischen Städtern austauschen, während Kühe, Pferde, Hunde und Katzen durch die Szene laufen. Die nächste Szene: Das Hochzeitspaar, die Stylistin, Mutter, Vater sowie die kleine Schwester der Braut steigen in einen kleinen Fiat Punto und fahren davon. Wie sie alle in diesem kleinen Auto zusammensitzen, besorgt, keine Falten in Brautkleid und Anzug zu machen, hätten wir nur zu gerne dokumentiert. Ich nutze die ruhige Minute, ziehe mich aus und stelle mich hinter Orlando unter die Dusche. Im selben Moment betritt ein Kuhhirt auf seinem Pferd die Bühne. Vor ihm zwölf Kühe, die genau auf den duschenden Schweizer zusteuern. Salam aleikum sagt er. Aleikum asalam. Sag ich.

Vor der Dämmerung gehen wir noch einmal Feuerholz sammeln. Als wir mit dem gesammelten Holz aus dem Wald auf die Lichtung treten, steht das nächste Hochzeitspaar vor Orlando. Und wir dachten: Was für ein idyllischer Ort, Ruhe und Natur Pur!

Pläne über den Haufen werfen

Wir sitzen mitten in Istanbul in einer gemütlichen Airbnb-Wohnung. Eine Baustelle hämmert von fern. Ein Strassenmusiker singt. Autos hupen. Ein kleines Café direkt unter uns lädt zum Verweilen ein. Stadtbesucher schiessen Selfies auf der farbigen Treppe unter unserem Fenster. Orlando steht in einem Parkhaus und erholt sich von der Reise.

Istanbul wollten wir eigentlich erst auf der Rückreise besuchen, aber wie gesagt: Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden. Und da es momentan keine Fähren von Griechenland in die Türkei gibt, mussten wir unsere geplante Route, von Rhodos in die Südtürkei eben über den Haufen verwerfen.

Wir bereiten uns auf die Fährenfahrt von Kreta nach Athen vor, reservieren eine Kabine für die Nachtfähre, kontrollieren noch einmal fein säuberlich Datum, Zeit, Abfahrt -und Ankunftshafen und buchen die Tickets. Diese holen wir bereits am Nachmittag ab und bummeln noch etwas durch die Stadt. Alles unter Kontrolle. Sauber geplant und gepackt. Als es endlich darum geht, mit Orlando in den Bauch der Fähre zu fahren sagt uns der Platzeinweiser: «Das sind die falschen Tickets. Damit reist ihr nirgendwo hin.» Während die anderen Autos in die Fähre rollen, renne ich zum Schalter. «Können Sie mir die Tickets noch einmal ausstellen? Diesmal die Richtigen bitte?» Die Frau hinter der Glasscheibe trägt eine Gesichtsmaske. «Humei tas hu schtmof?» «Bitte?» «Humei tas hu schtmof?» «Die Tickets! Es sind die Falschen. Wir müssen auf die Fähre!» «Smpf tihl schei!» Ich versteh kein Wort. «Die Maske! Ich versteh Sie nicht». «Smpf tihl schei!!!» wiederholt sie etwas lauter. So kommen wir nicht weiter, denke ich. Vielleicht schlafen wir einfach im Hafen und nehmen morgen die nächste Fähre nach Athen.

«Excuse me, what is your problem?» Eine junge Frau mit verständlichem Englisch stellt sich vor. Ich zu ihr: «Die Fähre, die Tickets, die Maske,… Können Sie mir meine Tickets noch einmal ausstellen? Hier ist meine Reservationsnummer.» «Ja, kann ich» «Danke». «Oh, es gibt keine Kabinen mehr an Bord». «Nein…».«Doch. Sie können nur noch in einem Schlafsessel…». «Genau das haben wir die letzten 20 Jahre gemacht und genau das wollen wir nicht mehr. Deshalb haben wir ja alles so schön säuberlich aufgegleist.» Verwirf den Plan, mach einen Neuen, denke ich. In diesem Moment sagt die Frau am Schalter: «Es gibt noch eine Luxuskabine».

Ich renne mit den neuen Tickets zurück zum Bus. Die Fähre wartet freundlicherweise auf uns. Ein Polizist steht neben Orlando und weist mich dezent auf einen Schaden an seinem Auto hin, den ich verursacht haben soll. «Where do you come from?» fragt er mich, bereit das Schadensprotokoll aufzunehmen. «That wasn’t me» sag ich, freue mich heimlich, dass ich diesen Satz an einen Polizisten richten kann, steige ein und fahre als Letzter mit Orlando in den Bauch der Fähre.

Wir haben die Luxuskabine der Minoan Lines genossen, haben mit dem kühlgestellten Weisswein auf umgeworfene Pläne angestossen, haben endlich wieder mal heiss geduscht, den Fernseher angedreht, und es uns auf dem grossen Bett bequem gemacht, während der Hafen von Heraklion an unserem Bullauge vorbeizog und dem Meer Platz machte.

Planänderungen haben etwas Schönes an sich. Durch den Umweg von über 1500 km hatten wir die Möglichkeit in einer Luxuskabine zu reisen, unerwartet Freunde in Thessaloniki zu besuchen, Orlandos Heizung zu reparieren, das beste griechische Abendessen zu geniessen, für zwei Flüchtlinge aus Moira zu kochen, Orlando in pink zu sehen und jetzt auch noch die lebendige und wunderschöne Stadt am Bosporus zu entdecken.

Die Kultur hat sich mit dem Grenzübergang schlagartig verändert. Neue Gerüche steigen uns in die Nase, die Melodie der Sprache, die Geräusche auf den Strassen und die Natur… wir fangen sie voller Neugier und Vorfreude ein und lassen uns weiterhin überraschen.

The Old Man and the Key

Die Ferien sind vorbei, das Reisen hat begonnen. Wir sind seit gut drei Wochen in Kreta, bereisen die einsame Südküste und stellen Orlando vorwiegend direkt ans Meer, meistens allein, manchmal teilen wir die Aussicht mit 2-3 anderen Reisefahrzeugen. 

Der tägliche Sonnenschein wird von unserem Solarpanel umgewandelt und versorgt Kühlschrank, Laptop und Handys mit dem nötigen Strom. Wir speichern unsere Tonaufnahmen und Fotos in unserem «Homeoffice», eine ausziehbare Arbeitsplatte an der Rückseite des Busses, und schreiben erlebte Anekdoten auf. Immer wieder sind wir erstaunt, wie uns die Geschichten zufallen, nicht zuletzt auch wegen Orlandos Charme. Wir müssen lediglich offen bleiben, Zeit mitbringen und ab und zu Pläne wieder über den Haufen werfen.

Folgendes Erlebnis könnte durchaus eine Szene von Orlando’s Reise werden…

Ein alter Grieche mit Strohhut und ausgetragenen Schuhen kommt vor dem Lebensmittelladen auf uns zu und interessiert sich offensichtlich für den Bus. Leider verstehen wir uns nicht, dennoch scheint er sehr freundlich und interessiert. Mit Händen und Füssen verständigen wir uns, und er fragt, wo wir hinfahren. «Nach Stoupa, der Küste entlang Richtung Süden» ist unsere Antwort. «Aaaah Stoupa!» entgegnet er. Als wir unsere Einkäufe verstaut haben und zum Abfahren bereit sind, sagt er nochmal «Stoupa, Stoupa!» Wir entgegnen «genau… Stoupa, Stoupa!» Ganz selbstverständlich steigt er in den Bus und setzt sich auf die Rückbank. Ach so, er will mitfahren! Kein Problem, wir nehmen ihn die paar Kilometer mit und fahren die kurvige Küstenstrasse ins nächste Dorf. Er macht uns ein Zeichen, dass er aussteigen möchte, wir helfen ihm aus dem Bus. Mit einem fröhlichen Lachen winkt er uns zu und wackelt davon.

Als wir ihn beim Weggehen von hinten betrachten kommt mir plötzlich ein Gedanke, der mich für kurze Zeit nicht mehr loslässt. Weiss der Mann eigentlich was er macht, oder ist er etwa verwirrt? Vielleicht ist er ja aus einem Altersheim abgehauen… Ich beruhige mich mit dem Gedanken, dass wir ja nur ins nächste Dorf gefahren sind und er hier sicher Bekannte hat. Als er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, und wir bereit sind für die Weiterfahrt, finde ich auf der Rückbank, da wo er gesessen hat, einen Schlüssel. Er muss dem alten Mann aus der Tasche gefallen sein. 

Ich lese schon die Schlagzeilen von morgen in der griechischen Zeitung:

80 jähriger Mann wird in einem VW Bus mit Schweizer Kennzeichen entführt. Der Bus wurde gestern am Strand von der Polizei registriert und weggeschickt. Der Hausschlüssel des unschuldigen Mannes wurde gestohlen um dessen Wohnung zu plündern. Wer hat die Schweizer gesehen?

Wir sammeln weiterhin spannende Geschichten. Wer weiss, vielleicht lässt sich diese ja in unser Theaterprojekt einflechten?

«Mögt ihr Erdbeeren?»

Die Frage überraschte uns. «Ja klar mögen wir Erdbeeren.» Georgios und sein Sohn versprechen uns, welche zu bringen. Ein anderer Grieche, Nikos, kommt vorbei und bringt uns einen Osterzopf. Wir schenken ihm eine Tafel Schokolade. Alexis und Maria, ein junges Paar, freuen sich über unseren Bus Orlando. Sie werden uns eine Flasche selbstgemachtes Olivenöl ihrer Grossmutter vorbeibringen.

Es wird Abend und wir haben mit dem halben Dorf gesprochen. Plötzlich steht Georgios mit seinem Sohn vor unserem Bus. «Am besten ihr stellt die Erdbeeren in den Kühlschrank und esst sie morgen mit etwas Jogurt und Zucker» Die beiden stellen uns drei Körbchen voller Erdbeeren auf den Tisch. «Unser Kühlschrank ist klein» sagen wir «Wir können diese Menge kaum bewältigen. «Ihr könnt sie auch einfrieren» ist ihre Antwort. Wir lachen, denken an unser zuhause gebliebenes Gefrierfach und fangen sofort an Erdbeeren zu essen. Etwas später geht Nikos mit seiner Tochter an uns vorbei. Er sieht die Erdbeeren. «Ihr habt Erdbeeren? Wer hat die euch gebracht? Zeigt mal her.» Prüfend hält er seine Nase über die Erdbeeren und schüttelt den Kopf. «Nein, nein, nein. Das sind nicht dir richtigen. Ich bringe euch meine Erdbeeren. Die sind besser». Bevor wir etwas sagen können, steigt Nikos in sein Auto und fährt davon. Fünf Minuten später ist er zurück und stellt uns 10 Kilo Erdbeeren auf den Tisch. «Das sind gute Erdbeeren» sagt er. «Probiert mal». Die Erdbeeren sind fruchtig-süss-rot und verbreiten einen zauberhaften Duft. «Wow» sagen wir und fügen hinzu, dass wir keinen Platz für so viele Erdbeeren im Kühlschrank… «Ihr könnt sie auch einfrieren» sagt Nikos. Wir lachen. Diesmal eher etwas hilflos. Inzwischen ist uns klar geworden, dass wir mitten in den griechischen Erdbeerfeldern stehen.

Am nächsten Morgen kommt Georgios mit Sohn wieder vorbei. «Na, wie haben euch unsere Erdbeeren… Wo habt ihr denn die vielen Erdbeeren her?!?» Sie schauen erstaunt auf die 10 Kilo Kiste. «Schmecken euch unsere Erdbeeren etwa nicht?» «Doch, klar, nein, die sind super, aber…» Wir erzählen den beiden, wie wir zu den vielen Erdbeeren gekommen sind. Sie probieren Erdbeeren aus der 10 Kilo Kiste. Lachend sagen sie «Ok. Die sind sehr gut! Ein bisschen besser als unsere. Aber unsere sind die Zweitbesten.»

Am nächsten Strand begegnen wir Alexis und Maria. Sie bringen uns Grossmutter’s Olivenöl vorbei. Und weil die Eltern des jungen Mannes Wind davon bekamen, stehen sie plötzlich auch vor unserem Bus und überreichen uns frische Eier und griechisches Gebäck. Ein Hoch auf die griechische Gastfreundschaft!

über die Berge ans Meer

Die Vorbereitungen schienen kein Ende zu nehmen. Konzept erarbeiten. Dossier für Finanzierung zusammenstellen. Kulturverein gründen. Webseite kreieren. Ton- und Regiebesprechung. Reiseequipment zusammenstellen. Und dazwischen immer wieder der Satz «Wir gehen. Corona hin oder her»

Wir reisen schon lange nach dem Motto: Hinfahren und vor Ort entscheiden wie es weiter geht. So auch diesmal. Also packten wir unsere sieben Sachen und fuhren los. Nach Ancona und von dort weiter mit der Fähre nach Patras/Griechenland. Wir reisten Open Deck. Das heisst, Orlando war unsere Schiffskabine. Den PCR-Test konnten wir unkompliziert beim Verlassen der Fähre machen. Die Sonne schien, die Luft voller Jasminduft, links das tiefblaue Meer, unter uns der zufrieden tuckernde Motor von Orlando.

Griechenland empfängt uns mit offenen Armen. Die Menschen erwachen aus dem Corona-Tiefschlaf. Im Gedränge maskiert, aber immer sehr entspannt und unglaublich gastfreundlich. Vor ein paar Tagen gingen die Terrassen der Tavernen auf. Die griechische Küche schmeckt doppelt gut.

Unser erster Übernachtungsplatz ist unter einer vom Wind gebogenen Pinie am Meer. Orlando verbreitet seinen Charme und wir lernen innerhalb kürzester Zeit das ganze Dorf kennen. «Woher kommt ihr?» «Wie lange bleibt ihr?» «Wohin geht ihr?» «Mögt ihr Erdbeeren?» Die letzte Frage führt zu einer schönen kleinen Szene, die die griechische Gastfreundschaft nicht besser aufzeigen könnte. Aber dazu im nächsten Beitrag. Wir stehen also da, die Füsse im Sand, vor uns geht die Sonne im Meer unter, unsere Haut ist salzig vom ersten Bad. Den nicht enden wollenden Winter und die gebetsmühleartigen Wiederholungen der Corona-News noch im Nacken, können wir unser Glück kaum fassen.

Hier beginnt es also. ORLANDO’S REISE, das Theaterstück, mit welchem wir am 15.April 2022 in Wetzikon Premiere feiern werden. Noch wollen wir gar nicht so genau wissen, was ORLANDO’S REISE sein wird. Wir haben aber eine leise Vorahnung wie die Geschichte beginnen könnte… Jetzt atmen wir erstmal tief durch. Und dann beginnen wir mit Sammeln.

Ab jetzt sind wir Geräusche-Jäger, Geschichten-Sammler, Ideen-Schöpfer und Bilder-Macher.

Auf geht’s!

Wie das Stück entsteht, könnt ihr auf unserem Blog mitverfolgen. Mal schauen, wohin uns unsere Reise in dieser seltsamen Zeit bringt. Wir werden sammeln! Geschichten, Szenen, Musik- und Tonaufnahmen! Auf geht’s!